Das ewige Klassentreffen

Das Internet macht unsere Freundschaften oberflächlicher – doch das ist gar nicht so schlimm, wie alle denken.
– Gastbeitrag von Christoph Koch – 

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ImageCredits: Bastografie / photocase.com

„Da haben die Leute dann 300 Freunde – wer soll das denn glauben?“, empören sich die Kritiker von Online-Netzwerken wie Facebook, MeinVZ oder MySpace. Das Internet zerstört die wahre Freundschaft, behaupten Pessimisten wie der amerikanische Kulturkritiker William Deresiewicz. „Macht Facebook uns einsam?“ fragt diesen Monat das amerikanische Intellektuellen-Magazin „The Atlantic“ anklagend-suggestiv. Doch in Wirklichkeit sind das Internet und seine bald eine Milliarde Menschen große Nation von Freunden namens Facebook nicht das Ende der Freundschaft – sondern eine Bereicherung. Das habe ich gemerkt, als ich für mein Buch „Ich bin dann mal offline“ in einem Selbstversuch 40 Tage auf das Internet verzichtet habe – und feststellen musste, das ich damit den Kontakt zu einigen Freunden in der Ferne nahezu abschnitt. Mag sein, dass manch virtueller Austausch („Tolles Foto!“ / „Danke, hat Tina auf Sardinien gemacht.“ / Tina gefällt das.) auf den ersten Blick trivial erscheint – aber ist diese angebliche Oberflächlichkeit wirklich so schlimm? Oder liegt gerade in der Möglichkeit, mal unverbindlich und schnell, ein anderes Mal  jedoch intensiv und direkt zu kommunizieren nicht viel mehr ein großer Gewinn?

Da ist die berufstätige Mutter, der noch weniger Zeit bleibt, seit sie die Fortbildung angefangen hat. Abends, wenn die Kleinen schlafen, schafft sie es zwar nicht mehr mit ihren alten Freundinnen tanzen oder ins Kino zu gehen – aber ein paar Zeilen, Fotos und Neuigkeiten online auszutauschen, das geht leichter und nimmt das schlechte Gewissen, sich gar nicht mehr zu melden. Oder die alten Freunde, die vor Jahren eine WG teilten, nun in verschiedenen Städten wohnen und sich nur noch alle paar Jahre treffen. Wenn das geschieht, müssen sie nicht mehr die erste Hälfte des Gesprächs mühsam damit verbringen, sich auf den neuesten Stand zu bringen, sondern sind über das Leben des anderen durch Facebook-Updates oder Twitter-Meldungen so auf dem Laufenden, als würden sie sich viel öfter treffen. Und kommen so oft schneller zu den tatsächlich relevanten, persönlichen Themen.

Der Streit „Internetfreundschaft“ versus „echte Freundschaft“ ist ohnehin albern. Wer glaubt, dass seine Mitmenschen ihren besten Freund nicht von einem Online-Profil unterscheiden können, ist so naiv, wie er es diesen Mitmenschen unterstellt. Jedem ist klar, dass die Tatsache, ob man jemanden um Hilfe bitten würde oder im Krankenhaus besucht, nicht im geringsten davon abhängt, ob man auf Facebook befreundet ist oder nicht. Die ganze angebliche Verwirrung um den Freundesbegriff, die durch die sozialen Netzwerke entstanden ist, ist nur eine scheinbare. Denn die Nuancen der unterschiedlichsten Freundschaftsmodelle waren schon immer feiner, als die Sprache sie vermitteln konnte. „Freund“ konnte schon immer viel bedeuten – vom Kindergartenfreund, den man seit Ewigkeiten kennt, aber mit dem man nicht mehr allzu viel zu tun hat, über den besten Freund, den man vielleicht noch gar nicht so lang kennt, aber dafür sehr gut, bis zu dem Kollegen, der eben mehr ist als nur das, weil man auch privat gerne Zeit miteinander verbringt. Von dem Wandel, den das Konzept Freundschaft im Lauf der Geschichte durchgemacht hat, gar nicht zu reden.

Diejenige tiefe Freundschaft, die man „im echten Leben“ meist nur für eine Handvoll Menschen empfindet – meist die, bei denen man ohne zu zögern morgens um vier klingeln würde, wenn einen der Partner rausgeworfen hat – entsteht aus miteinander verbrachter Zeit, gewachsener Loyalität und Ehrlichkeit. Aus Liebe, regelmäßigem Austausch, geteilter Freude und gemeinsamem Frust. Doch diese Form der Freundschaft ist nur eine von vielen – eine, die völlig unabhängig von Facebook existiert und vom Internet weder gefördert noch bedroht wird. Denn schon immer gab es neben den guten, dicken, engen Freunden auch eine große Gruppe von Freunden, die man schätzt, mit denen man aber nicht zu jeder Zeit ein stundenlanges Gespräch führen möchte. „Früher haben manche Leute extra zu einem Zeitpunkt angerufen, zu dem sie wussten, der andere würde nicht zuhause sein“, erklärt Charles Steinfield, Kommunikations­wissenschaftler an der Michigan State University. „Sie wollten bewusst den Anrufbeantworter erreichen, um eine Information übermitteln zu können, ohne persönlich interagieren zu müssen.“ Steinfield ist einer von drei Autoren der Studie „The Benefits of Facebook ‚Friends’“, die sich mit den Auswirkungen von sozialen Netzwerken auf Freundschaft und Wohlbefinden beschäftigt hat.

Doch eben weil es das Internet so einfach macht, in Kontakt zu bleiben, wird die Anzahl der Freunde fast automatisch immer größer: Denn durch jeden Umzug, jeden Jobwechsel, jede Party kommen neue Gesichter hinzu – die alten bleiben jedoch erhalten. Oft besteht die Alternative außerdem gar nicht zwischen „Treffe ich meine Freunde real oder virtuell?“ sondern zwischen „Treffe ich meine Freunde virtuell oder gar nicht?“. Denn je individualisierter eine Gesellschaft wird, je unterschiedlicher die Tagesabläufe und je mobiler die Jobprofile, desto schwieriger wird der Stammtisch, das regelmäßige Tennismatch oder das gute Gespräch über einem Glas Wein. Ist also ein Abend auf Facebook besser als ein Abendessen, das man für eine Handvoll Freunde gekocht hat und gemeinsam mit ihnen in angeregter Unterhaltung genießt? Sicher nicht. Hat man jeden Abend Zeit für ein solches Luxusprogramm? Eben. Und statt allein vor dem Fernseher oder über den Büroakten zu sitzen, sind ein paar Nachrichten, die man online mit alten Freunden austauscht, sicherlich nicht die schlechteste Alternative.

Das Vorurteil, Menschen mit einem großen virtuellen Freundeskreis seinen Sozialphobiker mit schlechter Haut, schlechter Frisur und schlechten Tischmanieren, die im „echten Leben“ einfach keine Chance hätten, stimmt doppelt nicht: Zum einen, weil mehrere Studien zeigten, dass Menschen, die online aufgeschlossen sind und viele Kontakte haben, auch in der Realität über einen größeren Freundeskreis verfügen. Zum zweiten weil selbst die im Internet geschlossenen Freundschaften sehr oft irgendwann in die Realität übertragen werden. Wer sich online über gemeinsame Interessen kennenlernt – und gemeinsame Interessen sind grundsätzlich ja erst mal ein besserer Grundstein für Freundschaft als durch Zufall im selben Dorf geboren oder im selben Büro angeheuert worden zu sein – will sich meist auch irgendwann von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Sehr oft – so zumindest meine Erfahrung – stellt man dann fest, dass die andere Person in echt genauso lustig, klug oder interessant ist wie im Netz.

Die Angst, wer zu viele Freunde habe, könne es mit den einzelnen nicht ernst meinen, ist in dieser Form eine urdeutsche – den in Sachen Freundschaft entspannteren Amerikanern wird deshalb auch bei jeder Gelegenheit Oberflächlichkeit vorgeworfen – und ebenso phrasig wie moralinsauer gewarnt: „Die laden dich dann zu sich nach Hause ein, meinen es aber im Grunde gar nicht ernst!“ Man möchte mit einer Szene aus der Cartoonserie „Die Simpsons“ antworten, in der Barts Klassenkamera Martin Prince angesichts eines vor Kindern  überquellenden Swimmingpools ruft: „Mehr Freunde, mehr Verbündete, mehr von allem! Hängt, die, die von weniger reden!“ Recht hat er. Millionen von Facebookfans sind seine Zeugen.

Über den Autor: 

Christoph Koch ist Journalist (NEON, brand eins, SZ-Magazin und andere) und Buchautor. Sein Selbstversuch „Ich bin dann mal offline – Leben ohne Internet und Handy“ (als Taschenbuch 8,99 EUR, als eBook 7,99 EUR) stand mehrere Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste – „entspannt und mit viel Selbstironie, profund recherchiert und faktensatt“ urteilte Die ZEIT. Inzwischen ist der 37-Jährige wieder online. Er lebt in Berlin und bloggt auf christoph-koch.net.

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