Gastbeitrag von Susanne Siegert, Projecter
Was haben Corona und die Black-Lives-Matter-Bewegung gemeinsam? Beide haben im letzten Jahr dafür gesorgt, dass TikTok die Bedeutung erlangte, die es aktuell innehat.
Auf der einen Seite öffneten sich in der Lockdown-Langeweile ganz neue Zielgruppen für die App: Nutzten 2019 nur drei Prozent der “Millennials” (Geburtsjahre 1981 bis 1996) die App täglich, schnellte diese Nummer kurz nach Inkrafttreten der ersten Corona-Beschränkungen auf 19 Prozent hoch! Auf der anderen Seite zeigte TikTok, dass es den Stempel „Bisschen Lipsync, bisschen Tanzen“ zu unrecht trägt, als sich Massen als Reaktion auf den Mord an George Floyd mobilisierten – auf den Straßen, aber auch auf den For You Pages weltweit.
In seiner jungen Geschichte (die App existiert seit 2016) hat TikTok das Video-Format – und die Social-Media-Landschaft generell – bereits geprägt wie zuletzt Snapchat mit seinem Vertical-Video-Ansatz, der mittlerweile von WhatsApp bis LinkedIn auf allen Social-Media-Apps übernommen wurde.
Wir erleben eine Revolution der Art und Weise, wie wir in Zukunft Video-Inhalte produzieren und konsumieren werden – in der App selbst, aber auch darüber hinaus.
1. Schnelleres Storytelling – mit Mut zur Lücke
Ob Sechssekünder wie bei Vine (RIP) oder 15-Sekunden-Insta-Storys: Unsere Online-Aufmerksamkeitsspanne ist kurz. Eine Microsoft-Studie wies im Jahr 2000 noch eine durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne von zwölf Sekunden nach – etwa 15 Jahre später waren es nur noch acht Sekunden. Bei einem Goldfisch sind es übrigens neun Sekunden.
Acht Sekunden. Das liegt (auch) an Social Media und der Flut an Informationen und Inhalten, die über verschiedene Devices und Apps auf uns einprasseln.
Aber: Auch innerhalb dieser kurzen Aufmerksamkeitsspanne können Unternehmen und Creators einen Impact hinterlassen. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich sogar Video-Views unter ZWEI Sekunden positiv auf Faktoren wie Brand Recall, Awareness und Kaufabsichten auswirken.
Das bedeutet: Videos und Video-Ads müssen neu gedacht werden. Und TikTok bzw. seine User:innen demonstrieren, wie in wenige Sekunden Videomaterial richtig viel Mehrwert, Witz und Story gepackt werden kann, z.B. durch kurze Schnitte, Zeitsprünge, Transitions oder das Adaptieren bereits bekannter Storylines (dazu später mehr). Diese Form des Hochgeschwindigkeits-Storytellings erfolgt oft auf Kosten des Verständnisses von User:innen, die das Video vielleicht erneut sehen müssen, um es vollumfassend zu verstehen. Der Branding-Effekt tritt aber schon beim ersten Sehen ein.
2. Mehr Authentizität – auch bei Ads
Don’t make ads. Make TikToks. – Das empfiehlt TikTok in großen Lettern auf seiner Business-Plattform. In der App selbst fügen sich gesponserte Clips nahtlos in die For You Page ein, die entweder selbst von Influencer:innen im Auftrag von Unternehmen oder zumindest im Stil von Influencer:innen-Content erstellt wurden.
Zwei aktuelle Beispiele: die UpUp™-Leggins (links), beworben als “Anti Cellulite Booty Shaping Leggings”; oder die Oktopus-Wende-Kuscheltiere (rechts), die je nach Laune zu einem lächelnden oder wütenden Oktopus umgestülpt werden können.
Auf den ersten Blick wirken beide Clips durch bekannte Elemente (z.B. Fragensticker) wie organische Inhalte – nur die Caption sowie der kleine “Anzeige”-Zusatz darunter verraten: Hier handelt es sich um eine sehr authentisch inszenierte Form von User-Generated-Content – der die Ad-Landschaft nachträglich prägen könnte.
3. Audio Bits als Instrument für Storytelling
TikTok stellt durch Verträge mit allen größeren Plattenlabels mittlerweile eine schier unendliche Sound-Bibliothek zur Verfügung, die Nutzer:innen für TikToks(-Ads) nutzen können – egal, ob Jason-Derulo-Song oder “Star Wars”-Zitat.
Vorbei sind die Zeiten des uninspirierten Gedudels aus GEMA-freien Song-Archiven.
Audio-Schnipsel bilden in Kombination mit On-Screen-Text (zum Beispiel zur Darstellung eines Dialogs oder als Closed Captions) und Filtern (siehe Screenshot) oft die Grundlage für das Storytelling eines Clips. Der Sound “Be A Clown” (siehe Screenshot links) schafft gemeinsam mit dem Filter “Psychedelischer Clown” zum Beispiel den erzählerischen Rahmen für über 970.000 TikToks.
Und wenn Sounds wie dieser, “Waking Up In The Morning, Thinking About So Many Things” oder “How Bizarre” trenden, versetzen sie User:innen oft in nur wenigen Sekunden in das thematische Setting eines Posts.
Lizenzierte Tracks für (Social Media) Content zu nutzen, war bisher in der Videoproduktion undenkbar – und Instagrams Konkurrenz-Produkt “Reels”, das vor allem Business-Accounts in der Musikauswahl immer noch stark einschränkt, zeigt, wie stark aktuelle Video-Trends auf den Original-Sound angewiesen sind.
4. Die Zukunft von Video ist inklusiver
Und mit dieser Inklusivität ist nicht nur die Barrierefreiheit der meisten Posts gemeint, da es eine ungeschriebene TikTok-Regel ist, “Closed Captions” zu verwenden, um den Content auch gehörlosen Nutzer:innen zugänglich zu machen.
TikTok macht Video-Produktionen außerdem für jede:n zugänglich. User:innen lernen, schon indem sie mit Content interagieren, wie kreative Inhalte entstehen. “Behind The Scenes”-TikToks wie dieser zeigen mit einfachen Mitteln, was hinter so manchem zehn-sekündigen Clip steckt. Die Hürde, ähnlich kreativen Content zu erstellen, fällt weg, unabhängig von Alter, Skill-Set und Co. Das Ergebnis: Mehr Diversität unter Content-Produzent:innen, die dank des TikTok Creator Funds erfolgreichen Content unabhängig von Sponsoren und Werbedeals produzieren können. Der TikTok-Creator-Fund – seit Ende März mit “70 Millionen Dollar” u.a. auch in Deutschland verfügbar – schüttet Geld an teilnehmende Content-Produzent:innen aus. Alle Creators, älter als 18 Jahre, mit mindestens 100.000 Follower:innen und über 100.000 Video-Views in den letzten 30 Tagen, deren Content den Community Guidelines entspricht, können sich bewerben.
Zitat: We see the launch of the Creator Fund today as the first step towards a new world of opportunity on TikTok. Where our creators can take their creativity, imagination and ambition to the next level.
Fazit
Wir fühlen uns aktuell zurückversetzt in die Zeit, als Snapchat den “Ephemeral Content” (ephemeral = vergänglich) in unsere Mediennutzung integrierte – Inhalte, die nur für eine gewisse Zeit verfügbar sind und dann verschwinden. Dieses Feature wurde anfangs vor allem als netter Weg abgetan, um bedenkenlos “Nudes” zu verschicken. TikTok-Content sowie seine Macher:innen wurden zuletzt ähnlich belächelt.
Die neue Art des Video-Storytellings begann mit Snapchat und wurde von Instagram fortgesetzt. TikTok schreibt gerade ein weiteres Kapitel – noch authentischer, noch kürzer und noch kreativer.
Also ich bin schon seit Jahren großer Fan von TikTok. Ich freue mich, wenn es immer mehr für sich entdecken und stimme vielen Punkten in diesem Artikel zu. Aber ein paar Sachen würde ich gerne ergänzen bzw. richtig stellen.
Es braucht „nur“ 10.000 Follower, um ins Creator-Programm zu kommen – und nicht 100.000.
Und das ist auch der einzige Punkt, an dem Follower bei TikTok eine Rolle spielen. Was dieses Netzwerk sympathisch macht und auch wieder anders macht, als die anderen.
Der Algorithmus ist die eigentliche Innovation und Sensation des Netzwerks. Dieser macht – in Verbindung mit den super kreativen Menschen – das Netzwerk so kurzweilig und zieht die Viewer förmlich in die App.
Dem Algorithmus ist es gleichgültig (oder zumindest gleichgültiger), wie viele Follower der Account hat oder welche Hashtags verwendet wurden. So schafft man es auch als kleiner Account mal eben mit einem Video mehrere 100.000 Views zu generieren.
Und zum Punkt Musik: Hier gibt es auch bei TikTok einen Unterschied zwischen Business Accounts und Privat- bzw. Creator Accounts.
Die Business Accounts haben auch keinen vollen Zugriff auf die Musik-Bibliothek. Vielleicht gibt es mehr Auswahl, als bei Instagram, aber das habe ich noch nicht überprüft oder nachgezählt… 😉😀
Hier würde ich Unternehmen raten, genau zu überprüfen, ob und welche Musik sie für ihre TikToks benutzen. Genauso sollten Creator aufpassen, welche Musik sie benutzen, wenn sie zum Beispiel eine Produktplatzierung oder ähnliches in ihre TikToks einbinden. Aber das kann vielleicht ein Anwalt besser erklären/überprüfen.
Danke für deine Ergänzung!